Der Grund, warum über Lorena Bobbitt vor 25 Jahren monatelang berichtet wurde, warum ihr Leben verfilmt wurde und warum sie nun zum Gesicht der vierteiligen Amazon-Dokumentationsserie Lorena wird, ist aus Mediensicht eigentlich sehr simpel: Sie hat ihrem Mann John Wayne Bobbitt den Penis abgeschnitten. Man könnte sich kaum ein Verbrechen ausdenken, was die gerade aufkeimenden Boulevardmedien der frühen 90er Jahre noch mehr in ihren Bann ziehen würde wie das lose Gemächt eines Mannes. Schaut man sich den Fall — wie es Regisseur Joshua Rofé und Produzent Jordan Peele in der Dokumentation tun — aber etwas genauer an, offenbaren sich gleich mehrere traurige Wahrheiten: die Verzweiflung einer Immigrantin, Misogynie in den Medien und häusliche Gewalt.

Obwohl ich Lorena insgesamt mochte, muss ich zugeben, dass mich die erste Folge noch überhaupt nicht gepackt hat; sie ist chaotisch, reißerisch und lässt noch keine wirkliche Haltung erkennen. (Ja, ich beschwere mich damit indirekt über den Schnitt in Lorena. Versteht ihr, Schnitt?) Lässt man das Gesehene aber etwas sacken, kann man einen Sinn hinter dieser Herangehensweise erkennen. Indem es gefühlt die gesamte erste Folge nur um die Reaktionen der Medien sowie der Freunde und Bekannten der Bobbitts darauf geht, wie Lorena den Penis ihres Mannes abgeschnitten und entsorgt hat und wie er dann wieder an seinen rechtmäßigen Platz operiert wurde, verliert man bei all den Ausschnitten von Howard Stern, Steve Harvey und Co. selbst den Blick für die wirklich wichtigen Fragen: Wer ist Lorena Bobbitt und was hat sie zu einer solchen Tat bewegt?

Um diese Fragen drehen sich dann glücklicherweise die restlichen drei Episoden. Die Dokumentation kann dabei mit so ziemlich jeder der wichtigen Figuren des Falles auftrumpfen: Angehörige, Anwälte, Zeugen, Jury-Mitglieder, Medienberater, Comedians und nicht zuletzt John und Lorena Bobbitt selbst. Besonders spannend ist auch die Einordnung von Feministinnen, was der Fall Lorena für die Frauenrechtsbewegung in den USA bedeutet hat.

Die Tatsache, dass Lorena Bobbitt ihre Tat im Prozess dadurch rechtfertigte, indem sie ihr Mann jahrelang geschlagen und vergewaltigt habe, sorgte nämlich für einen gehörigen Aufschrei in der Bevölkerung. Auf der einen Seite standen diejenigen, die ihr — obwohl sie die Vorfälle häuslicher Gewalt eingestanden — vorwerfen überreagiert zu haben, auf der anderen Seite jene, die den Fall Lorena als Mittel sahen, endlich über neue Gesetze zum Schutz vor ehelichem Missbrauch zu diskutieren. Im Jahr 1994 war es in Virginia beispielsweise noch immer so, dass ein Ehepartner den anderen nur dann missbraucht haben kann, wenn beide physisch voneinander getrennt lebten und die Frau permanenten Schaden erlitt. Die maximale Haftstrafe dafür betrug auch nur zwanzig Jahre, wohingegen man für eine „normale“ Vergewaltigung lebenslang hinter Gitter musste.

Die Dokumentation macht zurecht kein Rätsel daraus, ob die Vorwürfe gegen John Bobbitt der Wahrheit entsprechen oder nicht, immerhin beweisen mehrere polizeiliche Protokolle, dass immer wieder Beamte zum Haus der beiden gerufen wurden — ganz abgesehen von den physischen Verletzungen, die Lorena davontrug. Was die Gerichtsverhandlung selbst angeht, hat sich Regisseur Joshua Rofé bewusst dafür entschieden, Lorenas unheimlich bewegende Beschreibungen dessen, auf welche Weise sich ihr Mann regelmäßig an ihr vergangen hat, nahezu ungeschnitten einfach für sich stehen zu lassen. Das macht die Tatsache, dass es danach noch immer Leute gab, die ihr attestierten, nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben, nur noch ungeheuerlicher.

Neben all den gesellschaftlichen Aspekten wirft Lorena allerdings auch einen Blick auf die Rolle der Medien. Wie bereits oben erwähnt war die mediale Begeisterung für den Fall enorm und fast schon vergleichbar mit den Fällen um O.J. Simpson und Anita Hill. Die frühen 90er Jahre waren eine Zeit, in der CNN sein News-Monopol ein Stück weit aufgeben musste, weil neue, boulevardeskere Nachrichtenmedien auf den Markt strömten. Der Fall Lorena war da gefundenes Fressen für Berichte rund um die Uhr: Mit John Bobbitt hatten die Medien einen echten Posterboy der Navy in der Rolle des schönen Prinzen, wohingegen die zierliche, schwarzhaarige Einwanderin aus Venezuela eher dem Image einer der bösen Stiefschwestern aus Aschenputtel entsprach. Klingt rassistisch — ist es auch.

Dass sich zu dem eher unterschwelligen Rassismus noch eine gute Portion offensichtlicher Misogynie gesellte, dürfte klar sein. Die Dokumentation muss gar nicht viel tun, um das klar zu machen, weil allein schon die Tatsache ausreicht, dass Newssender den Verstümmelungs-Prozess gegen Lorena live im Fernsehen übertrugen, während sie das wegen häuslicher Gewalt eingeleitete Gerichtsverfahren gegen John nicht zeigten. Mit das schockierendste für mich war allerdings der mediale Umgang mit John Bobbitt nach dem Prozess, worauf Lorena im Detail eingeht. Er wurde in Shows eingeladen und wurde zum Prominenten, seine weiteren Penis-Operationen und sein Werdegang zum Pornostar („John Bobbitt Uncut“, was auch sonst?) fast schon dokumentarisch verfolgt. Trauriges Highlight sind für mich die zahlreichen Auftritte bei Howard Stern, der sogar zu Spenden für Johns Penis aufruft. Wenn man den vollkommen gebrochenen John in Lorena so im Sessel hängen sieht, könnte man fast ein bisschen Mitleid bekommen — bis die Doku dann daran erinnert, dass er auch in den Jahren nach dem Fall Lorena immer wieder gewalttätig gegen Frauen wurde.

Lorena ist gewiss kein Meisterwerk, dazu sind die ersten 60 Minuten zu schwach und die nachgestellten Zwischensequenzen zu einfallslos. Hier hätte ich mit etwas mehr Kreativität gewünscht, wie es beispielsweise die Macher von Wild Wild Country geschafft haben, die auf ähnlich viel Material aus Nachrichtensendungen und TV-Beiträgen zurückgegriffen haben. Dennoch haben bei mir vor allem der Feminismus- und der Medienaspekt genau ins Schwarze getroffen, weswegen mich die vier Episoden schlussendlich gut unterhalten haben. Wer da ähnlich tickt, sollte Lorena mal zwei Folgen geben — und sich nicht von der ersten abschrecken lassen.

Mein Urteil: 7 von 10 Hot-Dog-Behältern.

 

Wie fandet ihr Lorena?
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