Im Internet ist es ja nicht immer ganz einfach, sich eine eigene Meinung zu bilden. Bei Serien entsteht dann oft ganz schnell so eine Art Gruppenkonsens, indem viele Leute eine Meinung haben und fast alle diesen Leuten dann nachplappern. Als ich gestern mit der finalen Staffel von Bloodline fertig geworden bin, bin ich wie üblich ins Internet gegangen, um zu schauen, wie andere die letzten zehn Folgen beurteilen. Als ich dann festgestellt habe, dass die allgemeine Meinung ungefähr bei „Gute Staffel, aber das schlechteste Ende ever“ liegt, habe ich nochmal bis heute nachgedacht: Fandest du das Ende WIRKLICH so scheiße, wie alle sagen? Und die Anwort ist: Nein, tue ich nicht.

Und ich will dabei wirklich nicht prätentiös klingen. Ich sage nämlich auch, dass diese Staffel auf jeden Fall ihre (großen) Schwächen hatte – aber der Ausgang und die viel kritisierte Folge 9 gehört da für mich größtenteils nicht dazu. Bloodline gelingt meiner Meinung nach über weite Strecken eine wesentlich rundere Staffel als noch im letzten Jahr. Die Serie lässt sich in ihren langsamen und leisen Tönen nach wie vor nicht aus der Ruhe bringen und schafft es, seine eigentlich auf fünf oder mehr Staffeln ausgerichtete Handlung auf das Drängen von Netflix hin in diesem Jahr zu einem zufriedenstellenden Ende zu bringen.

Staffel 3 setzt dort an, wo man im letzten Jahr aufgehört hat. Die Familie Rayburn befindet sich nach wie vor im freien Fall und die Dinge steuern endgültig einer Katastrophe entgegen, die jedes Familienmitglied in Gefahr bringt, als Kevin Rayburn den Polizisten Marco Diaz umbringt. Er ist den Geschwistern John, Kevin und Meg auf die Schliche gekommen, wie diese den Mord an Danny, dem schwarzen Schaf der Familie, vertuschen wollten. Kevin sucht schnell die Hilfe des breit grinsenden Mob-Bosses Roy Gilbert, mit dessen Hilfe es ihm gelingt, mit Eric O’Bannon einen von Haus aus verdächtigen Kleinkriminellen für den Mord an Marco verantwortlich zu machen. Daraus resultieren vor allem für Polizist John allerlei berufliche und private Herausforderungen, die ihn mit Verlauf der Staffel auch mental immer mehr belasten.

Kevin Rayburn ist in diesem Jahr fast der auffälligste Charakter. Er hat ein außerordentliches Talent dafür, in jeder Situation die denkbar dümmste Entscheidung zu treffen, und es ist für uns Zuschauer geradezu genugtuend, wenn John ihm das immer wieder klarmacht. Norbert Leo Butz verkörpert ihn so treffend als solches Nervenbündel, dass einem das Zuschauen aber trotzdem Spaß macht. Insbesondere die ohnehin schon sehr guten Dialoge lässt Butz oft extrem lebensnah wirken. Eine Handlungsachse, die mir gar nicht gefallen hat, war seine Frau Belle, die im Verlauf der Handlung immer unglaubwürdiger handelt, bspw. als sie den Mord Kevins an Marco einfach hinnimmt. Kevins andauerndes Ankämpfen gegen seine Triebe ist aber wirklich packend: Er bleibt z.B. die gesamte Staffel über trocken, auf der anderen Seite lässt er sich immer tiefer – trotz Warnungen von John und Mutter Sally – in den kriminellen Sumpf von Roy Gilbert ziehen.

Sally gehören die wahrscheinlich emotionalsten Momente in dieser Staffel, was nicht zuletzt an der überragenden Sissy Spacek liegt, die meiner Meinungen nach in dem insgesamt großartigen Cast die größten Chancen auf einen Emmy hat. Aber generell hat mir die Gerichtsverhandlung bzgl. Marcos Tod, die sich über zwei bis drei Folgen erstreckt hat, richtig gut gefallen. Man hat das ganze nicht als ein lineares Ereignis dargestellt, sondern die Chronologie mir Vor- und Rückblenden etwas aufgebrochen. Und zum Ende der Verhandlung eine dieser angesprochenen hochemotionalen Szenen, in denen Sissy Spacek ihr ganzes Können zeigen konnte, als sie einen ganzen Gerichtssaal mit ihrem Geständnis, dass sie sich damals zwischen ihrem Mann Robert und Danny entscheiden musste, zu Tränen rührt.

Etwas weniger zu sehen bekommen wir Meg, die recht schnell Abstand zu ihrer Familie sucht und versucht, ein neues Leben in Los Angeles zu starten. Das ist sehr schade, weil ich Linda Cardellini ebenfalls wahnsinnig gerne zuschaue, ich weiß nicht, ob da nicht irgendwelche anderen Termine dazwischengekommen sind, sodass sie nicht mehr die große Rolle spielte? Gerade im Gerichtsverfahren gegen Eric hätte ich sie sehr gerne dabei gehabt. Ich hoffe, man sieht sie bald in viel mehr Serien.

Zu so einem kleinen Liebling und einem unerwarteten Sympathieträger hat sich auch der eben angesprochene Eric O’Bannon gemausert. Er ist zwar alles andere als die Unschuld in Person, aber seine Geschichte hat gut gezeigt, wie wenig Chancen jemand im amerikanischen Justizsystem hat, wenn sich mehrere Menschen gegen einen verschwören. In seiner Rolle als minderbemittelter „Redneck“ hat mir Jamie McShane wirklich zunehmend mit seiner traurigen und resignierenden Mimik imponiert. Genauso macht seine Schwester Chelsea auch eine klare Wandlung durch und wird am Ende fast zum Symbol dafür, wie sehr die Rayburns das Leben einer kompletten Familie zerstören können.

Mein größter Kritikpunkt der Staffel – und wahrscheinlich auch der gesamten Serie – ist die Storyline von Ozzy Delvecchio. Und hier tue ich mir wirklich schwer zu beschreiben, wie beschissen das war. So wie ich das sehe, gibt es absolut keinen Grund dafür, Ozzy überhaupt in dieser Staffel zu haben, weil sein Plot einfach mit nichts zusammenhängt, nichts beeinflusst und im Großen und Ganzen einfach nur unnötig war. Es kommt mir wirklich so vor, als hätten die Macher in Staffel 2 gesehen, dass sie mit John Leguizamo einen grandiosen Schauspieler gecastet haben, den sich jetzt einfach wieder gerne dabei haben. Ihm aber dann eine Storyline zu geben, die auch nur im Geringsten Sinn macht, das wurde ganz offensichtlich vergessen. Es ist natürlich auch möglich, dass sie Netflix auf diese Weise den Stinkefinger zeigen wollten, nach dem Motto: Das habt ihr jetzt davon, dass wir nach drei Staffeln Schluss machen sollen. Jeden Zuschauer schmeißt diese Geschichte aber einfach völlig raus, weil man die ganze Zeit denkt, man hat irgendwas verpasst. Aber nein, da ist einfach nur was ganz gehörig schief gegangen.

Ähnlich verhält es sich über weiter Strecken übrigens auch mit Dannys Sohn Nolan. Auch bei ihm hat man das Gefühl, dass man nicht ganz genau wusste, was man jetzt noch mit ihm soll. Mal ist er kurz ein Love Interest für Johns Tochter, mal sucht er Nähe zu den Rayburns und mal fordert er die Familienmitglieder auf, endlich mit der Wahrheit herauszurücken. Da Owen Teague aber auch den jungen Danny spielt und dadurch dafür verantwortlich ist, dass wir Ben Mendelsohn nochmal sehen dürfen, sehe ich das Ganze aber mal nicht so eng wie bei Ozzy. Nolan ist eher eines dieser losen Enden – genau wie z.B. Johns Sheriff-Kampagne – , was einen jetzt nicht komplett aus der Bahn wirft, aber man auf jeden Fall besser lösen kann.

Zu den Stärken der Serie gehört nach wie vor seine sehr eigene Bildsprache und seine Cinematography. Man hat wirklich den Eindruck, dass man sich die wirklich von Anfang an so ausgedacht hat, weil sie wirklich optimal die Story unterstreicht, und diese dann konsequent über 33 Episoden durchgezogen hat. Die vielen nahen Aufnahmen von den schwitzigen Gesichtern lassen einen die Luftfeuchtigkeit in den Florida Keys richtig spüren. Die wacklige Handkamera sorgt einerseits für den Eindruck, dass wir überall Wasser um uns herum haben, und andererseits für die Vermittlung von Unruhe und Gefahr. Extrem viele Szenen finden zudem bei Nacht statt, was total realistisch wirkt, auch wenn man so ab und zu tatsächlich recht wenig erkennen kann, aber genau das soll damit auch bezweckt werden. Man hat außerdem keine Angst vor Stille, das fehlt vielen Serien, die immer versuchen, einen „Ton-Teppich“ zwischen die Dialoge zu legen. Es wird viel gewartet, nachgedacht und beobachtet, da macht gelegentliche Stille nur Sinn. Dazu kommen dann so kleinere Kniffe, wie die visuelle Umsetzung von Bewusstlosigkeit oder Träumen, wo die Farben dann ineinander verschwimmen, oder der präzise Schnitt, wenn zwischen zwei Orten gewechselt wird.

Kommen wir aber zur Story unseres Protagonisten John und damit auch zu den letzten Episoden und den Ausgang der Serie. John bleibt auch in Staffel 3 derjenige in der Familie, an den sich alle wenden, wenn etwas schief läuft – ob das jetzt Kevin, Meg oder auch Sally ist. Das wirkt jedoch zunehmend unsinnig, weil John sein Leben nach und nach selbst die Kontrolle über sein Leben verliert. Er trennt sich von seiner Frau, sieht seine Kinder nur noch unregelmäßig und verwahrlost in einem billigen Motel vor sich hin. Auch beruflich gerät er immer mehr unter Druck, weil ihm sein Boss Franco immer mehr auf die Spur kommt, sowohl was den Mord an Danny als auch an Marco angeht. Die gesamte Belastung der letzten Monate entlädt sich letztlich in der vorletzten Folge der Serie.

Und das ist schon eine ziemlich selbstbewusste Entscheidung der Macher, eine solche Episode, die sich eigentlich komplett in Johns Kopf abspielt und in seiner Irrationalität total im Kontrast zur bitteren Realität der restlichen Folgen steht, an dieser Stelle der Serie zu platzieren. Viele sagen, man hätte diese Folge überhaupt nicht gebraucht und auf keinen Fall so lange. Ich finde aber: Doch, genau das hat man gebraucht, genau in dieser Länge, genau an dieser Stelle.

Die vorletzte Folge verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, was die letzten Monate aus John gemacht haben. Nicht nur die letzten Monate, eigentlich lässt er sein gesamtes Leben Revue passieren, seit jenes Tages, an dem Danny seine Schwester Sarah zum Tauchen mitnahm und tot zurückbrachte. Er bewegt sich dazu fast in sowas wie Paralleluniversen, in denen er jede Entscheidung nochmal beäugt, die dafür verantwortlich ist, dass John jetzt dort angekommen ist, wo er ist. Als Zuschauer verliert man dabei selbst total den Überblick und man verliert sich voll und ganz in Johns Gedanken – genau das, was die Macher damit erreichen wollten.

Vom „Good Kid“ der Familie, zu dem alle aufgeschaut haben, den alle sich zum Vorbild nahmen, zu einem Mann, der plötzlich Danny gegenübersteht und sich die Frage gefallen lassen muss, wer hier der „Fuck Up“ ist, wer hier das schwarze Schaf der Familie ist. Das Gespräch mit Danny im Krankenhaus ist für mich sogar die beste Szene der Serie. John lügt sich aus meiner Sicht seit Jahren selbst an, auch Kevin wirft ihm zurecht vor, dass er sich ständig für etwas besseres als alle anderen hält, und dieser Mann steht jetzt Danny gegenüber, der natürlich seine Fehler gemacht hat in seinem Leben, aber immer absolut ehrlich zu sich selbst war. Für mich eine fantastische Folge, die genau das verdeutlicht, was man zwar immer unterschwellig gedacht hat, aber hier wurde es einem richtig ins Gesicht geworfen: Diese Vorstellung, dass Danny das schwarze Schaf ist und ihm an alles die Schuld zu geben ist, die war schon falsch, als ihn sein Vater verprügelte, weil Sarah ertrunken ist. John hat schon damals nichts dagegen gemacht, weil er sich in seiner und Danny ihm in seiner Position sehr gut gefallen hat.

Zwar hätte es mir besser gefallen, wenn Ben Mendelsohn in den zehn Folgen immer mal wieder auftaucht wie in Staffel 2, aber ich bin froh, dass er überhaupt nochmal zurückgekehrt ist. Und obwohl er die wohl schlechteste Perücke der Seriengeschichte trägt, so bringt er in seinen kurzen Auftritten wohl eine noch bessere Leistung als in den vergangenen zwei Jahren.

Auch zu Kyle Chandler brauchen wir nicht viele Worte verlieren, ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele Schauspieler gibt, die John Rayburn so verkörpern würden, dass wir für ihn nach all den Dingen, die er getan hat und wozu er sich entwickelt hat, noch solche Sympathien für ihn empfinden. Er spielt ihn mit einer solchen Ruhe, dass er nach außen tatsächlich selten aus der Haut fährt, wir aber merken, dass er innerlich immer mehr abstumpft und es brodelt. Jeder Gefühlsausbruch fühlt sich deshalb auch wie ein Vulkanausbruch an, wenn er von seiner leisen, fast flüsternden Stimme ins Schreien wechselt.

Im Hause Rayburn kommt es in der letzten Folge dann zum Showdown zwischen John, Kevin und Sally. Und wieder brilliert Sissy Spacek mit einer Performance, in der sie sichtlich mitgenommen Bilanz zieht, wie sich schon zu deren Geburt abgezeichnet hat, dass sich ihre Kinder zu schrecklichen Menschen entwickeln würden. Kevin ist zu schwach für diese Welt, Danny hat schon damals nicht in diese Familie gepasst und John gibt sie schließlich die Schuld an allem.

Die Serie könnte für Kevin nicht typischer enden. John hilft ihm dabei, mit Belle und seinem Sohn nach Cuba zu flüchten. Dieser Plan hält allerdings nicht lange, weil Belle vergisst, ihr Handy auszuschalten. Die Familie wird also zurück nach Florida gebracht und Kevin droht, die Strafe, die er verdient.

Bei John sieht es genau andersrum aus: Er flüchtet nicht, rennt nicht davon, sondern will sich aktiv seinem Schicksal stellen. Doch auch dieser Plan Johns geht nicht auf, weil Franco ihm und seinem Geständnis nicht glaubt, bzw. nicht glauben will. Manchmal ist es die gerechte Strafe für einen Charakter, ihm keine direkte Strafe zu geben. John wird nun für den Rest seines Lebens mit seiner Schuld leben müssen. Francos Satz „You’re a good guy“ ist dann fast sowas wie die Höchststrafe, weil es genau das ist, was John schon sein ganzes Leben gesagt bekommt und sich auch selbst ständig einredet. Eine Chance, sich rein zu waschen, hat er kaum noch.

Das Einzige, was er jetzt noch tun kann, ist, Nolan die Wahrheit über seinen Vater zu sagen. Und zwar die ganze Wahrheit: Angefangen von der Geschichte mit Sarah, davon, dass Danny nicht so ein übler Typ war, wie er immer von allen Rayburn hingestellt wurde, und John unter anderem dabei geholfen hat, seine Frau kennenzulernen. Und natürlich auch die Wahrheit über seinen Tod. Wenn er das tun sollte und Nolan davon erzählt, dass sein Vater zwar viele falsche Entscheidungen in seinem Leben getroffen hat, aber vor allem damit zu kämpfen hatte, dass die Rayburns ein Opfer brauchten, auf das sie all ihren Ärger projezieren konnten, dann hat John noch eine Chance.

Allerdings ist die Entscheidung darüber nun jedem selbst überlassen. Anders als viele bin ich ja ein großer Fan von offenen Enden, weil ich der Meinung bin, dass das Ende einer Serie nicht das Ende einer Geschichte bedeuten muss. Wir haben genug gesehen, um uns selbst eine Vorstellung davon zu machen, wie das Gespräch zwischen John und Nolan aussehen könnte. John war bereit, sich der Polizei aufzugeben. Er wird Nolan die gesamte Wahrheit über Danny erzählen, nur wird es absolut nichts nützen. Deshalb haben es uns die Macher nämlich auch nicht gezeigt. Nolan wird dem Mörder seines Vaters nicht in die Arme fallen, John wird nicht von seiner Schuld erlöst. Einzig und allein Danny würde die Wahrheit hören, wie sein Bruder tatsächlich über ihn denkt – und nicht, wie er jahrelang über Danny denken wollte, weil es einfach war. Aber für Danny kommt das zu spät.


Die dritte und letzte Staffel von Bloodline ist dauerhaft verfügbar auf Netflix.