Es gibt solche und solche Staffelfinals: Die einen reißen ein und die anderen räumen auf. In Better Call Saul hat man sich in diesem Jahr für Letzteres entscheiden. Sämtliche Handlungsstränge erreichen ihren natürlichen Höhepunkt, ohne dass sie als große Überraschungen daherkommen. Das müssen sie aber auch gar nicht, weil selbst all das, was sich seit längerer Zeit abzeichnet, in der tatsächlichen Ausführung dann weitaus eindrucksvoller wirkt, als man sich das davor vorgestellt hat. Bei mir war es zumindest so.

Nachdem Kim nach ihrem Autounfall einen Gang zurückschaltet, versucht auch Jimmy seine schrecklichen Taten von letzter Woche zu revidieren, nimmt dabei jedoch einen Schaden in Kauf, der für seine Zukunft richtungsweisend sein wird. Ebenso drängt die schwindende Zeit Nacho zu verzweifelten Maßnahmen, wobei es am Ende der Konflikt mit seinen „Cartel“-Vorgesetzten ist, der Hectors Fass zum Überlaufen bringt. „Lantern“ ist aber vor allem das tragische Ende der Geschichte des Chuck McGill. Als er erst beruflich und dann auch privat sämtliche Fäden löst, die ihn mit anderen Menschen und der Außenwelt verbunden haben, erleidet er einen Rückfall in seine Krankheit und verliert vor unseren Augen immer mehr seinen Verstand. Schließlich setzt er seiner erbärmlich gewordenen Existenz selbst ein Ende. Und das auf die denkbar schrecklichste Art und Weise: Er verbrennt in seinem Haus bei lebendigem Leibe.

Müsste man ein Thema für die gesamte Staffel und nun auch deren Ausgang bestimmen, so wäre es wohl die Unausweichlichkeit von Entwicklungen. Im Verlauf der Staffel unternehmen fast alle Charaktere Versuche, ihre derzeitige Situation zu verbessern und sich gegen das drohende Schicksal zu wehren. Jimmy versucht sogar in „Lantern“ nochmal, seinen folgenschweren Eingriff in das Leben von Irene und ihren Freundinnen wiedergutzumachen. Wie sich später aber herausstellen soll, sind es Chucks letzte Worte an ihn, die ihm und auch auf gewisser Weise allen anderen Charakteren folgendes klarmachen: Die Fehler in der Vergangenheit waren zu bedeutend, zu einschneidend, es bringt nichts, sich dem Schicksal zu widersetzen, weil die Folgen unausweichlich sind.

Bei Nacho war es wohl der Fehler, überhaupt in sein kriminelles Leben zurückgekehrt zu sein. Dort sieht er sich nun mit Problemen konfrontiert, die nicht nur sein Leben, sondern auch das seines Vaters bedrohen. Auf den hat Nacho ja eindringlich eingeredet, dass er nichts Dummes tun soll, wenn Hector Salamanca sein Textil-Geschäft übernehmen will. Das klappt dann aber leider nur so lange, bis ihm der Drogen-Boss tatsächlich gegenübersteht. Er kann sich den Kommentar „Please… get out of my store“ nämlich nicht verkneifen und nimmt Hectors erste Zahlung für die „Unannehmlichkeiten“ nur unter Protest und auf Nachos Drängen hin an. Als wir dann aber draußen Hector „I don’t trust him“ sagen hören, ist und und Nacho klar, dass er nicht mehr viel Zeit hat, auf Hectors schwaches Herz zu hoffen.

(Interessant ist, dass die Situation von Nachos Vater sehr der ähnelt, in der Mikes Sohn Matty in der Folge „Five-O“ in Staffel 1 steckte. Er wurde auf korrupte Polizei-Kollegen aufmerksam und ihm wurde dann Geld angeboten, um ihn zum Schweigen zu bringen. Bevor er das aber annahm, zögerte er den beiden Cops ein bisschen zu lange, was ihnen die einzige Möglichkeit ließ, Matty umzubringen, weil sie ihm nicht vertrauten.)

In einem kurzen Teil der Folge, der für mich bis jetzt noch keinen großen Sinn macht, unternimmt Nacho dann sogar einen verzweifelten Versuch, Hector mit einer Waffe aufzulauern. Er wird dann jedoch von Arturo dabei unterbrochen, der auf einmal auftaucht, weil Hector, er und Nacho genau an dieser Stelle anscheinend ein Treffen vereinbart hatten. Wäre es nicht unglaublich dumm gewesen, ihn genau dort zu töten? Naja, vielleicht konnte Nacho in diesem Moment auch einfach nicht mehr klar denken. Jedenfalls trafen die drei dort dann auf die ebenfalls ankommenden Juan Bolsa und Gus Fring. Bolsa sollte Hector als direkter Handlanger von Cartel-Boss Don Eladio ein- für allemal klarmachen, dass der Transport der Drogen von nun an nur noch über die Trucks von „Los Pollos Hermanos“ durchgezogen wird. Auch wenn Bolsa betont, dass es nichts gegen Hector persönlich sei, kann dieser das natürlich nicht auf sich sitzen lassen, obwohl er den vorübergehenden Transport über Gus‘ Geschäft ja noch selbst eingefädelt hat. Mark Margolis‘ Performance ist in dieser Staffel auch so gut wie nie, der Satz „DA BOSS CANN SUCC MEHH!!!“ ist mit Sicherheit einer meiner absoluten Lieblinge der Staffel.

Er steigert sich so tief rein in seinen Zorn und seinen Neid auf Gus, dass es seinem Herz schließlich zu viel wird und er zusammenbricht. Bemerkenswert, dass es ausgerechnet sein Erzfeind Gus ist, der ihn mit einer Herzmassage am Leben hält. Er tut das wohl, weil er diese Art des Sterbens zu einfach findet, das hat er damals ja schon Mike gesagt: „A bullet to the head would have been far too humane.“ Für den Mörder seines besten Freundes hat Gus seine ganz eigene Rache geplant. Nacho jedenfalls hebt die zu Boden gefallenen Tabletten auf und übergibt den Sanitätern die echte Packung. Ob sein Plan aber unerkannt geblieben ist? Dem letzten Blick von Gus nach zu urteilen, hat dieser eine gewisse Ahnung davon, was hier passiert sein könnte.

Schwierig zu sagen, wie Gus auf diese Erkenntnis reagieren könnte. Wird er erbost darüber sein, dass Nacho so nahe kam, das Leben seines Erfeindes zu beenden, weil er es selbst so dringend tun möchte? Womöglich will er ihn deshalb ja aus dem Verkehr ziehen. Andererseits könnte es auch in die andere Richtung gehen und Gus könnte Nacho für seine Dienste gewinnen wollen: Er sichert ihm die Sicherheit für ihn und seinen Vater zu und im Gegenzug arbeitet er als Doppel-Agent? Alles in allem bin ich sehr zufrieden, wie mit der Cartel-Storyline in diesem Jahr umgegangen wurde. Wir erleben Gus als ein wenig unerfahrener als noch in Breaking Bad, außerdem setzen ihn die Macher wirklich nur dort ein, wo es wirklich Sinn macht. Nacho wurde in den wenigen Folgen, in denen er auftrat, definitiv zu einer meiner Lieblingsfiguren, die Beziehung zu seinem Vater hat so viel Herz in die Staffel gebracht. Der Fakt, dass wir in Breaking Bad nichts von ihm sehen, obwohl wir tief in die Machenschaften des Cartels eintauchen, lässt aber eher nichts Gutes für seine Zukunft erahnen.

Ähnliches konnte man auch über Kim sagen, als wir zum Ende der letzten Folge Zeuge ihres Autounfalls wurden. Als Jimmy sie anschließend sofort im Krankenhaus besucht, stellt sich jedoch heraus, dass ihre Verletzungen nicht lebensbedrohlich sind und sogar schon wieder nachhause darf. Den beiden fällt das Reden sichtlich schwer und sie wirken wie versteinert, weil sie wissen, was für ein Glück Kim hatte, dass sie hier nochmal mit einem Schrecken davon gekommen ist. Nachdem er ihre Fall-Dokumente an der Unfallstelle aufsammelt, kümmert sich Jimmy rührend um Kim. Wir bekommen abermals einen Eindruck davon, dass er eben nicht nur diese „Saul-Seite“ in sich hat, die wir in den letzten Folgen an ihm immer mehr erkennen konnten: Er ist liebevoll, aufmerksam und versorgt Kim nach diesen harten Tagen mit allem, was sie braucht, vor allem Gatorade.

Erwähnen muss man aber trotzdem, dass Kim im Moment die einzige und wohl auch die letzte Person ist, an der er diese Seiten seines Charakters zeigen kann. Er muss Chuck nicht mehr pflegen und hat den guten Kontakt zu seinen Kunden mehr oder weniger auf Eis gelegt. Es wird immer klarer, dass Kim der letzte Hebel ist, den man umlegen muss, damit der Saul über den Jimmy in ihm triumphiert. Noch gelingt es Jimmy, sie mit seiner aufrechten Art zu begeistern, aber wie lange noch? „There are lines we do not cross“, sagt Kim und macht ihm klar, dass sie nicht gefüttert werden will. Man kann die Zeile aber genauso gut in einen größeren Zusammenhang stellen: Kim wird nur so lange an seiner Seite bleiben, solange Jimmy auf der richtigen Seite des Gesetzes bleibt.

Das dachte man zumindest bisher. Die Darstellung der Beziehung zwischen den beiden nach dem Unfall lässt mich zum ersten Mal so richtig mit dem Gedanken spielen, ob sich Kim und Jimmy vielleicht nie wirklich trennen. Klar, sie taucht in Breaking Bad nicht auf, aber wir gehen ja auch nie mit Saul nachhause. In „Lantern“ scheint Kim nämlich gewissermaßen bescheid zu wissen, dass Jimmy Irene dazu getrieben hat, ihre Meinung im „Sandpiper“-Fall zu ändert. Ob sie alle Details kennt, bezweifle ich einfach mal, dennoch: Sie hat damals Jimmys Fälschen der „Mesa-Verde“-Dokumente hingenommen, sie hatte zwar ein schlechtes Gewissen nach Chucks Zusammenbruch vor Gericht, scheint aber letztlich damit zurechtgekommen zu sein, und jetzt das. „Sometimes you gotta play to your strengths“, meint sie, und ich persönlich lese das fast schon als Anfeuerung, seine Saul-Seite mehr und mehr zum Vorschein zu bringen. Verschiebt sich am Ende nicht nur Jimmys Verständnis von Recht und Unrecht, sondern auch das von Kim?

Weitere beunruhigend Details zu Kims Zukunft, die wir ansprechen sollten, sind ihre Kommentare zum Thema Tabletten. Weil wir die Vorliebe der Autoren der Serie für das Stilmittel „Foreshadowing“ kennen, dann kann man schon ein wenig stutzig werden, wenn sie auf die Frage „Ibuprofen or the proverbial good stuff?“ mit „The answer is alsways the good stuff“ antwortet. Das mag jetzt nach einer etwas weit hergeholten Theorie klingen, aber was wenn Kim eine Tablettensucht entwickelt? Wir haben bereits sehen können, dass sie durchaus Potenzial für eine Sucht mitbringt: Sie ist ein „Workaholic“, wie sie im Buche steht. Sie hat in diesem ganzen Stress eine durchaus ungesunde Menge an Kaffee getrunken. Und wir sehen sie im Gegensatz zu Staffel 1 immer häufiger beim Rauchen. Sie wird ja jetzt eine Weile wegen ihres Arms nicht gescheit arbeiten können, ebenso wird Jimmy sie durch seine Machenschaften wahrscheinlich immer mehr belasten: Womöglich könnte sie mit Schmerzmitteln versuchen, der Realität zu entfliehen und eine „Ersatz-Sucht“ zu entwickeln?

Noch sind wir aber nicht soweit. Kims Unfall war es, der bei Jimmy in vielen Belangen zum Umdenken geführt hat. Sie wird nun für eine Weile arbeitsunfähig sein, was Jimmy endlich dazu bewegt, bezüglich des Büros zur Vernunft zu kommen und es abzugeben. Auch Francesca wird — nachdem sie mit Kim nochmal einen Abstecher in eine „Blockbuster“-Videothek machen durfte — erstmal nicht mehr benötigt. Jimmy steht deshalb nicht mehr ganz so sehr unter Druck, schnell möglichst viel Geld zu machen. Wahrscheinlich ist es diese Erkenntnis, die ihn dazu bewegt, seine Taten aus der letzten Folge nochmal zu hinterfragen.

Als er dann versucht, erst mit Irene und dann mit ihren (früheren) Freundinnen einzeln zu sprechen, merkt er relativ schnell, dass das so nichts wird. Er hat zu viel Schaden angerichtet, für zu tiefe Wunden gesorgt. Deshalb bleibt für Jimmy wieder mal nur die Methode mit der Abrissbirne: „I’m not good at building shit, you know? I’m excellent at tearing it down.“ Und so macht er sich auf den Weg in die Yogastunde der Rentner, engagiert die verantwortliche Anwältin im „Sandpiper“-Fall Erin von „Davis & Maine“ und holt ihr gegenüber zum Rundumschlag gegen seine ehemaligen Kunden inklusive Irene aus. Über das wissentlich laufende Mikrofon hört das dann der gesamte Kurs, was Irenes Freundinnen am Ende doch wieder dazu bewegt, zu ihr zurückzukehren. „Shame on you“, werfen sie ihm hinterher, und auch Erin macht ihm klar, dass sie jedes Wort so gemeint habe. Jimmy weiß genau, dass diese ganze Geschichte nichts ist, auf was er stolz sein braucht.

Letztendlich war dieser Schritt aus Autoren-Sicht nicht zu umgehen. Wir haben jetzt eine Situation, in der es sich Jimmy mit seinem gesamten Klientel verscherzt hat. Als Kim und er aus dem Büro ausziehen, spricht er den Satz, der quasi perfekt auf das Thema der nächsten Staffel überleitet und auf den einige mit Sicherheit schon lange gewartet haben: „I’m gonna need a whole new business model when I get my licence back.“ Und wir wissen alle, welches Modell da sein wird — sein erstes Geld, das er in dieser Staffel von einem Kriminellen verdient, wird nicht sein letztes sein.

Man könnte ja meinen, dass die versuchte Wiedergutmachung bei Irene und ihren Freundinnen wieder ein Schritt in die „richtige“ Richtung war. Oder für Fans, die Saul möglichst schnell sehen wollen, einer in die falsche. Bei dieser Betrachtungsweise ignoriert man aber Jimmys Charakter, wie wir ihn nun mittlerweile seit drei Staffeln kennen und wie ihn uns Chuck ihn uns in dieser Folge nochmal beschreibt. Jimmy ist ein Wendehals, der etwas Gutes im Sinn hat, dann aber die völlig falschen Entscheidungen fällt und etwas Schlechtes tut, nur um die Dinge dann wieder gutmachen zu wollen, was alles nur noch schlimmer macht. Und genau das macht ihm Chuck im äußerst tragischen — und wie uns später klar wird: letzten — Gespräch der Gebrüder McGill deutlich.

Und Jimmy erwischt seinen großen Bruder da im denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Dieser musste nämlich kurze Zeit davor den Verlust dessen hinnehmen, was ihm am wichtigsten war: Seinen Beruf und noch schlimmer als das seine Berufung. Howard reagiert als mittlerweile menschlichste Figur dieser Serie verständlicherweise gekränkt darauf, dass Chuck seiner eigenen Firma in gewisser Weise die Pistole auf die Brust setzt, er sieht es sogar als „betrayal of our friendship“. Mit Tränen in den Augen und den Worten „You won“ übergibt er Chuck die erste Rate über drei Millionen Dollar, mit denen Chuck ausgezahlt werden soll. Howard geht dabei soweit, dass er das nötige Geld dafür sogar aus eigener Tasche zusammenkratzt, weil er im Gegensatz zu Chuck das Wohl der Firma an erster Stelle sehe. Es ist ihm wohl eine Genugtuung, Chuck vor versammelter Mitarbeiterschaft zu verabschieden und ihn unter großem Jubel zu verabschieden, bei dem dieser so tun muss, als freue er sich auch. Ein Kapitel geht zu Ende, Chuck verlässt die Firma und geht geradewegs in grelle Licht — wir wir später sehen werden: Ein bedeutungsschweres Bild.

Aber zurück zu Jimmys letztem Besuch bei Chuck. Zum ersten Mal bekommt Jimmy zu Gesicht, wie stark sich Chucks Gesundheitszustand scheinbar gebessert hat. Immer noch aufgewühlt durch Kims Unfall, will Jimmy anscheinend sichergehen, dass er nicht noch einen engen Bekannten im Krankenhaus besuchen muss, außerdem habe sich nach seinem Verhalten vor Gericht doch eine gewisse Schuld aufgestaut, doch Chuck kann mit seinen Entschuldigungsversuchen so gar nichts anfangen. Chuck scheint nach dem Verlust seiner großen Leidenschaft, der Justiz, völlig am Boden zu sein, und fragt ihn „What’s the point?“. Auch wenn es ihm in diesem Moment tatsächlich aufrichtig leidtun sollte, er werde nie sein Verhalten dementsprechend ändern, er prophezeit ihm: „In the end, you’re gonna hurt everyone around you.“ Als wäre das nicht schon genug, nimmt er sich nochmal zusammen und spricht einen der markantesten Sätze, die diese Serie bisher zu bieten hatte, und Michael McKean lässt es klingen, als würde er Jimmy mit diesen Worten fast sowas wie einen Gefallen tun: „I don’t wanna hurt your feelings, but the truth is: You never mattered all that much to me.“

In diesem Moment hört man förmlich, wie Jimmys Herz in tausend Teile zerbricht. Sein eigener Bruder, mit dem er so viel durchgestanden hat, den er jahrelang so bewundert hat und den er beeindrucken wollte, zertrennt selbständig das letzte bisschen Resthoffnung auf eine Versöhnung. Und dabei müssen wir ja sogar noch anzweifeln, ob er das wirklich so gemeint hat. Denn im Opening dieser Folge sehen wir die Brüder in ihrer Kindheit, wie  Chuck seinem kleinen Bruder aus „The Adventures of Mabel“ vorliest und ihm die Welt erklärt. Es gibt hier keinen Grund zu vermuten, dass er Jimmy bereits in diesem Alter so verabscheut hat, was ja sein Statement noch viel schlimmer macht, weil es ja bedeutet, dass er es nur sagt, um Jimmy möglichst stark zu verletzen. Er weiß genau, wie sehr Jimmy immer um seine Anerkennung gebuhlt hat, Chucks Worte sind deshalb wie ein Schlag in die Magengrube.

Danach folgt dann eine der traurigsten und eindrucksvollsten Montagen, die mir bekannt sind. Nachdem er einen letzten Versuch unternimmt, die Methoden von seiner Ärztin anzuwenden, verliert er sichtlich die Hoffnung, dass sich sein Zustand dadurch langfristig verbessern würde. Er weiß genau, dass seine gesamte „Genesung“ nur ein eine Tarnung war, eine kurzzeitige Periode, um Howard und Jimmy zu beweisen, dass er weiterhin ernst zu nehmen ist, und dass ihm seine geistige Krankheit in Zukunft nicht mehr im Weg stehen wird. Doch nachdem er nun seine Berufung verloren hat und seinen ganzen Zorn abermals an Jimmy ausgelassen hat, gibt es für Chuck keinen zuversichtlichen Blick in die Zukunft mehr.

Und so verfällt er wohl in die schlimmste Phase seiner Krankheit: Er schaltet sämtliche Sicherungen ab, montiert alle Glühbirnen ab, nimmt das Telefon vom Strom und schneidet sich so symbolisch endgültig von der Außenwelt ab — und währenddessen überprüft er immer wieder wie im Wahn den Stand an seinem Stromzähler, der aber einfach nicht aufhören will zu laufen und zu laufen. Wenn man die Kurzgeschichte „Tell-Tale Heart“ von Edgar Alan Poe kennt, wird man sich daran erinnert fühlen, als Chuck nach und nach immer mehr Wände aufschlägt auf der Suche nach dieser einen kleinen Stromquelle, die nur er fühlen kann, die ihm aber absolut keine Ruhe lässt. All diese Szenen sind absolut beängstigend und beklemmend anzusehen, noch dazu sind sie mit einer solch eindringlichen Musik unterlegt. Michael McKean überbietet seine damals schon beeindruckende Leistung in „Chicanery“ mit dieser sehr realistischen und detailreichen Darstellung von geistiger Krankheit, dass ich persönlich nur noch Mitleid für diese Figur empfunden habe. Seine Finger zucken, die Gesichtszüge sind völlig entstellt, er schwitzt am ganzen Körper — Chucks Krankheit hat ihn nach all den Jahren, in denen er es erst nicht wahrhaben wollte und schließlich sich sogar Hilfe geholt hat, einfach übermannt. Und das zeigt diese Montage ganz deutlich: Der einst so stolze Geschäftsmann, Anwalt und große Bruder ist nun ein gebrochener, leerer und von sämtlicher Hoffnung verlorener Mann.

Es ist tragisch, einen Menschen so zu sehen. Chuck war im Gegensatz zu Jimmy immer ein Charakter, dem die eigene Würde ganz wichtig war. Er hat sich und seiner Krankheit immer eine Grenze gezogen, an der es hier: Bis hierhin und nicht weiter. Ihn diesen Vorsatz aufgeben und in kürzester Zeit so verwahrlosen zu sehen, tat mir persönlich extrem weh.

Ich bin auch an einem Punkt, an dem ich davon ausgehe, dass es kein Zufall ist, dass Chuck überhaupt diese Krankheit entwickelt hat. Gewissermaßen denke ich nämlich, dass sie Ausdruck und Ergebnis seines gesamten bisherigen Lebens ist. Wi wir wissen, hat sich Chucks Elektro-Hypersensibilität kurz nach seiner Trennung mit seiner damaligen Frau Rebecca entwickelt, einem extrem einschneidenden Erlebnis in dem Leben eines Mannes, der sonst nie viele Verbündete oder Freunde hatte. Das war aber außerdem eine Zeit, in der Jimmy — das wissen wir aus dem Flashback in „Chicanery“ — mit Chucks Hilfe gerade auf dem Weg war, sich zu bessern und Abstand zu nehmen von seiner kriminellen Vergangenheit. Anders gesagt: In der Zeit davor, in der Chuck ein verheirateter, erfolgreicher Anwalt war und Jimmy in Cicero reihenweise Leute übers Ohr gehauen hat, war nichts zu spüren von seinen Beschwerden. Er hatte genügend Abstand zu Jimmy, mit dem er ja nie besonders gut zurecht kam, weil er immer ein Stück weit der Liebling seiner Eltern war. Chuck machte sie stolz, Jimmy aber brachte sie zum Lachen. Dadurch, dass er Jimmy aber nun immer mehr unter seine Fittiche nahm, ihm einen Job im Mailroom von HHM einen Job verschaffte, war sein kleiner Bruder wieder zurück in seinem Leben.

Dort machte sich Jimmy gut; so gut, dass er den Ehrgeiz entwickelte, selbst Anwalt zu werden, genau wie sein großer Bruder eben. Das konnte der rechthaberische und immer die Oberhand behaltende Chuck aber nicht akzeptieren; deswegen machte er Howard klar, dass es niemals so weit kommen darf, dass HHM Jimmy als Anwalt unter Vertrag nehmen würde. Was würde sich Jimmy auch einbilden? Jahrelang auf der anderen Seite des Gesetzes unterwegs, und nun — nach ein paar Jahren — wollte er plötzlich auf dieselbe Ebene wie sein Bruder, der sein ganzes Leben der Justiz gewidmet hat? Nein, das konnte er nicht akzeptieren. Genau das war aber aber die Zeit, in der Chuck seine Ehe verlor und in der sich seine Krankheit bemerkbar machte. Aus meiner Sicht ist seine mentale Krankheit deshalb vor allem eins: Eine Manifestation seiner Schuld und seines Neids auf seinen Bruder.

Chuck ist sich vermutlich völlig im Klaren darüber, dass sein Verhalten hinterhältig und böse ist, er ist schließlich ein intelligenter Mann. Trotzdem steht ihm einfach seine Sturheit und natürlich auch seine Vergangenheit mit Jimmy im Weg, seine neue Identität zu akzeptieren; den Jimmy, der es wirklich versucht, ein besserer, rechtsschaffender Mensch zu sein. Letztendlich ist es aber einfach so, dass es Chuck immer dann am schlechtesten ging, je besser sich Jimmys Leben entwickelte. Als Jimmy in Staffel 1 ein selbständiger, bemühter, aber im Endeffekt glückloser Anwalt war, der Kleinkriminelle wie die Kettlemans verteidigte, verbrachte Chuck schon seit Monaten sein Leben nur noch in seinen eigenen vier Wänden. Er sah seinen kleinen Bruder, der aufrichtig versuchte, das Richtige zu tun, mit dem Wissen, dass er es nie zu mehr schaffen würde, und die Schuld in ihm wuchs. Als Jimmy dann sein Geschäft durch den Publicity-Stunt an dem Werbeplakat antreiben wollte, verschlimmerte sich Chucks Zustand. Kurz darauf stieß Jimmy mit „Sandpiper Crossing“ zudem auf seinen ersten riesigen Fall. Und plötzlich war Jimmy so kurz davor, seinen Bruder in seinem Gebiet, dem Recht, zu überflügeln. Das konnte Chuck natürlich nicht auf sich sitzen lassen und so zwang er Jimmy mehr oder weniger dazu, den Fall an HHM abzugeben. Jimmy war wieder in die Schranken gewiesen, der Neid auf Jimmy legte sich wieder, dafür stieg die Schuld in ihm immer weiter an.

Und so zog sich das durch die gesamte Geschichte. In „Chicanery“ kam es dann zu der schicksalshaften Begegnung vor Gericht und zu einem spannenden Urteil. Chucks ultimatives Ziel war es ja, Jimmy die Anwalts-Lizenz wegzunehmen. Das erreichte er mit dem Ausgang des Verfahrens zumindest zum Teil: Jimmy bekam für ein Jahr ein Berufsverbot ausgesprochen und in dem Wissen, dass es danach extrem schwer würde, wieder ein erfolgreiches Anwaltsbüro aufzubauen, ging es Chuck auch plötzlich besser. Plötzlich bestand nicht mehr die Möglichkeit, dass ihm sein Bruder in absehbarer Zeit die Show stehlen könnte. Es war nebenbei sogar noch ein Glücksfall für ihn, dass er durch diese Anhörung die Wahrheit darüber erfahren hat, wie seine Krankheit wirklich „funktioniert“. Er hatte keine Probleme, die Behandlung dann letztendlich anzugehen, denn er hatte ja schließlich das Ziel vor Augen, dass alles wieder so werden könnte, wie es einmal war: Chuck als erfolgreicher und beschwerdefreier Anwalt und Jimmy als Arbeitsloser, der aber wenigstens keinen Unfug mehr mit dem Gesetz anstellen konnte.

Er hat die Rechnung aber ohne Jimmy — oder in dieser Situation besser gesagt: Saul — gemacht. Indem er die Steuer von Chucks Zusammenbruch vor Gericht in Kenntnis setzte, ließ er Howard keine andere Wahl, als Howard indirekt dazu zu bringen, Chuck zu einem Rückzug aus der Firma zu überreden. Als dies dann in „Lantern“ schließlich tatsächlich auch so kommt, ist Chuck wieder genau dort angekommen, wo er nie wieder sein wollte: Auf einer Ebene mit Jimmy, arbeitslos. Und dann arbeitete es Chuck und er merkte: Für Jimmy besteht die Chance, dass er wieder beruflich aufsteigt. Er hat Kim, er hat ein intaktes Sozialleben, die Menschen lieben ihn. Er selbst dagegen wird aus diesem Tal niemals wieder aufstehen. Sein Ruf ist ruiniert, er hat niemanden mehr. Seine Schuld an Jimmys beruflicher, und sein Neid auf seine soziale Situation und seine aussichtslosen Zukunftsaussichten sind es dann meiner Meinung nach, die seinen Rückfall in seine Krankheit verursachen. Und diese macht sich so stark wie nie bemerkbar.

Bleiben wir gedanklich als in meiner Theorie, dann spielt es gar keine Rolle, was es ist, was in Chucks Haus immer noch ein klein bisschen Strom frisst. Viel wahrscheinlicher ist, dass Chuck in diesem Moment so tief in seinem Wahn ist, dass er den Stromzähler laufen sieht, weil er ihn laufen sehen will. Er reißt in seinem Haus nicht sämtliche Wände ein, weil er auf der Suche nach der Stromquelle ist. Für mich ist er auf der Suche nach dem Grund, wieso er zu einer so böswilligen und neidischen Person wurde, zu der ihn die Beziehung zu seinem Bruder gemacht hat. Das macht diese Szenen auch für mich so tragisch: Das Fallenlassen sämtlicher Grenzen, die er sich selbst gesteckt hat, das Aufgaben seiner Würde, sehe ich als das Zeigen tiefer Reue.

Und diese Reue ist es dann meiner Meinung nach auch, die ihn dazu treibt, Selbstmord zu begehen. In einem völlig geistesabwesenden Zustand tritt er gegen seinen Wohnzimmertisch und lässt so ein Gaslampe zu Boden fallen, die dort blitzschnell das gesamte Haus entzündet. Er setzt seinem Leben einer der wohl grausamsten Enden, die man sich so vorstellen kann, auch das kann man nochmal als absolutes Eingeständnis des Bewusstseins seiner eigenen Schuld deuten. Er will seinen Mitmenschen vielleicht auch endlich nicht mehr zur Last fallen. Es ist das Ende eines Charakters, der mir persönlich als Antagonist unendlich fehlen wird, weil er so unglaublich komplex und auch weit entfernt von einem gewöhnlichen Bösewicht war.

Letztendlich hat sich sein Tod aber schon seit Längerem angekündigt. Schon in Staffel 2 gab es erste Theorien, dass Chuck irgendwann bei einem Hausbrand umkommen könnte. Dass es jetzt dann auch tatsächlich so gekommen ist, lege ich der Serie aber nicht als Vorhersehbarkeit aus, sondern als sinnvolles und logisches Writing, dem es darum geht, dass nichts einfach so aus heiterem Himmel fällt, sondern immer einen Ausgangspunkt besitzt. Die Serie wird ohne Chuck sicherlich eine ganz andere werden.

Weil ich eh schon viel zu viel geschrieben habe, will ich gar nicht so tief darin einsteigen, wohin der Weg in der vierten Staffel gehen wird. Noch ist diese nämlich noch nicht mal offiziell angekündigt; die Macher meinen zwar, dass das nur eine Frage der Zeit ist und man sich keine Sorgen machen braucht, aber mit einer zeitigen Fortsetzung sollten wir eher nicht rechnen. Je länger die offizielle Ankündigung nämlich auf sich warten lässt, desto später kann die Produktion beginnen, und da war die dritte Staffel schon recht spät dran. Um für die Emmys in Betracht gezogen zu werden, müssen Serien mindestens die Hälfte ihrer Folgen bis zum 31. Mai jedes Jahres ausgestrahlt haben. Ich halte es aktuell leider für nicht unwahrscheinlich, dass man dieses Datum verpassen könnte und die Serie dann gleich in die Herbst-Saison zieht.

Klar sollte aber sein, dass sich in der inhaltlichen Struktur der Serie einiges ändern wird. Ohne Chuck fehlt ein wirklicher Gegenspieler für Jimmy. Womöglich entwickelt sich eine Storyline, dass Jimmy an Chucks Geld aus den Firmenanteilen von HHM kommen will, was dann Howard zu so einer Art Antagonist werden lassen könnte, aber das ist Zukunftsmusik. Ich sehe in einer vierten Staffel vor allem den Konflikt und am Ende wahrscheinlich den Zusammenbruch der Beziehung zwischen Kim und Jimmy kommen. Außerdem wird er sich ein neues Klientel aufbauen müssen und sich dabei wohl auf Kriminelle spezialisieren, was ihn auch wieder häufiger in Kontakt mit Mike und dem Cartel bringen könnte.

Wie es denn auch kommen mag, mich haben Vince Giligan und Peter Gould auch in diesem Jahr zum Lachen und zum Weinen gebracht. Ich war mehr als zufrieden mit dieser Staffel Better Call Saul und werde auch zur nächsten wieder mit wöchentlichen Reviews zurück sein — wann sie dann auch immer erscheinen wird. Vielleicht lernen wir dann ja sogar den titelgebenden Charakter kennen?


Die dritte Staffel von Better Call Saul ist verfügbar auf Netflix.