Wenn du nur eine Hand voll Charaktere, ein eigentlich recht langweiliges Setting, keinen Mike, keinen Gus und keine sonstige Action bekommst und trotzdem „Chicanery“ für eine außerordentliche Stunde Fernsehen hältst – ja, dann hast du recht.

Und ich will in dieser Woche gar nicht lange um den heißen Brei herumreden. Was wir da diese Woche serviert bekommen haben, war fantastisch, genugtuend und ganz einfach an allen Fronten Weltklasse. Die Geschichte von Chuck und Jimmy erreicht ihren Höhepunkt, auf den sie so lange zugearbeitet hat; und es ist besser als alles, was wir uns vorstellen konnten. Auf den letzten 24 Folgen sensibelster Charakterzeichnung aufbauend war „Chicanery“ das Mikado-Stäbchen, das das ganze Gebilde zum Einsturz gebracht hat. Alles umgesetzt mit einer Präzision in den den Dialogen und in den schauspielerischen Leistungen, die einem in den simpelsten Situationen riesengroße Emotionen vermitteln. Und als wäre das noch nicht genug, bekommen wir auch noch einen der meist erwarteten Figuren aus Breaking Bad zurück.

Bevor sich all das aber entlädt, tauchen wir aber zunächst wieder einmal ab in die Vergangenheit. Diesmal allerdings nicht ganz so weit wie wir das schonmal gesehen haben, als Jimmy in Staffel 2 bei dem damaligen Ehepaar Chuck und Rebecca zu Gast war und sich Rebecca und er Anwalts-Witze erzählten und man Chuck ansehen konnte, wie zuwider es ihm ist, dass sein Bruder einen besseren Draht zu seiner Frau hat als er. Zu einer Zeit, als Jimmy gerade Anwalt geworden ist und vor kurzem in das Hinterzimmer des Nagelstudios gezogen sein dürfte, ist also die nun geschiedene Rebecca mit Chuck zum Abendessen verabredet. Chuck hat ihr jedoch noch nicht von seiner Elektro-Hypersensibilität erzählt, weshalb ihm Jimmy dabei hilft, Rebecca zu täuschen und zu einer Art Mittelsmann zwischen den beiden wird. Wer könnte besser geeignet sein als er, obwohl er natürlich die Risiken kennt: „The bigger the lie, the harder it is to dig out.“

Besonders schön ist die Szene, als Rebecca und Chuck alleine miteinander reden und sich amüsieren und Jimmy nicht stören will und im Bad bleibt. Nachdem das Dinner jedoch dadurch unterbrochen wird, dass Rebecca einen Anruf bekommt, der aus Chucks Augen optisch mit einem kalten, blauen Licht dargestellt ist, verlässt Rebecca das Haus, Jimmy will sie jedoch über Chucks wahre Situation aufklären. Er muss Chuck aber versprechen, ihr niemals etwas davon zu erzählen – wie wir später erfahren, hält das jedoch nicht lange.

Nach einem kurzen Abstecher bei unserem liebsten kriminellen Tierarzt, der nebenbei bemerkt auch sehr kompetent zu sein scheint, sehen wir die sichtlich nervöse Kim, die ihre „Mesa-Verde“-Klienten darüber aufklärt, was zwischen Chuck, ihrem Ex-Anwalt, und Jimmy vor sich geht. Als sie ihnen aber entgegnet, dass die ganze Affäre ihren Fall nicht beeinträchtigen werde, gehen bei uns spätestens die Alarmglocken an, wo wir doch wissen, dass in diesem Universum jede Handlung ihre Konsequenz nach sich zieht. Ich sehe in den nächsten Folgen echtes Unheil auf Kim und eine Bewährungsprobe auf ihre Beziehung zu Jimmy zukommen.

Howard hat hingegen seine eigenen Probleme. Als er mit Chuck den Anhörungssaal schonmal vorab besichtigt, stellt er diesen zur Rede – und das hat sich ja schon seit einigen Folgen angedeutet. Muss das alles wirklich sein? Können sich diese beiden Brüder nicht irgendwie anders einigen? Er sieht ein PR-Debakel auf „Hamlin, Hamlin & McGill“ zukommen. Auch in dieser Beziehung stellt „Chicanery“ also eine Art Höhepunkt in der Entwicklung dar, obwohl Howard natürlich nichts anderes übrig bleibt als weiter mitzuspielen. Ich bin ja wirklich gespannt, wohin die Geschichte auch für ihn und HHM geht.

Soviel also zu allem, was nicht während der Anhörung passiert. Und das will in einer Serie, in der es im Kern um die Geschichte eines Anwalts geht, schon was heißen: Wir sind nach 24 Folgen zum ersten Mal tatsächlich bei einer wirklichen gerichtlichen Prozedur dabei. Wir hatte Ansätze davon, klar, aber in dieser Episode erleben wir zum ersten Mal das Verlesen einer Anklageschrift, die Befragung von Zeugen und alles, was sonst noch dazu gehört. Man kann sagen, dass Peter Gould und Vince Gilligan es erfolgreich geschafft zu haben, Better Call Saul eben nicht zu einer von tausenden Anwaltsserie zu machen, sondern es besonders wirken zu lassen, wenn diese Charaktere dann endlich einen Gerichtssaal betreten – und das auch noch alle auf einmal.

Denn wenn man sich überlegt, welche Charaktere sich da innerhalb eines Settings befinden, welche Beziehungen dahinterstecken, dann ist das schon beeindruckend. Da sind als allen voran natürlich Jimmy und Chuck, dieses ungleiche Brüderpaar, von denen wir so viel wissen, die so viele Hochs und Tiefs zusammen durchlebt haben und jetzt keinen anderen Weg mehr sehen, als sich als Angeklagter und Zeuge gegenüberzustehen. Da sind Jimmy und Kim, die Einzelkämpfer – sie treu an seiner Seite, die den wichtigsten Fall ihrer Karriere nur ihm und seinem Betrug an Chuck zu verdanken hat, weswegen er sich nun auch verantworten muss. Da sitzen sich aber auch noch Jimmy und Howard gegenüber – Howard würde sagen „Charlie Hustle“, dem er nie diese Karriere zugetraut hätte. Er hat ihn – genau wie Kim – damals auf Chucks Anraten hin im Mailroom versauern lassen und ihm anfänglich den Weg zum Anwalt verbaut. All diese Menschen also in einem Raum und in einer Situation, in der sie nicht anders können als sich gegenseitig die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.

Eine weitere dieser tief gehenden Beziehungen im inneren des Saal ist außerdem die zwischen Chuck und Rebecca, das erste Puzzleteil in Jimmys Plan. Er hat sich also tatsächlich durch Mike ihre Kontaktdaten verschafft und sie eingeflogen. Jedoch nicht aus Aufrichtigkeit sondern einzig und allein deswegen, um Chuck da zu treffen, wo es ihn wehtut. Er will ihn in eine psychische Ausnahmesituation bringen vor der Frau, für die er immer noch Gefühle hat, er will seinen Hass und all diese Gefühle, die er in diesen Flashbacks für Jimmy gezeigt hat, zum Vorschein bringen und so provozieren, dass er vor den Richtern bricht.

Das ist aber nur einer von mehreren Schritten, die Jimmy einleitet, um zu garantieren, dass er in Zukunft weiter als Anwalt arbeiten darf. Nachdem Howard im Zeugenstand einen wunderschönen Konter zum Thema „Nepotism“ einstecken muss, bekommen wir Breaking-Bad-Fans tatsächlich unseren geliebten und einzig wahren Taschendieb und Bodyguard Huell zurück. (Ich habe als Ausdruck meiner Freude in meinem Notizbuch dazu einfach „HUELL OMG HUELL OMG HUELL OMG“ stehen.) Doch aber auch er wird nicht als reiner Fan-Service in die Story integriert, seine Einführung macht Sinn, weil es genau seine Skills in dieser Folge braucht. Jimmys Plan, der am Ende auch aufgehen sollte, sieht nämlich vor, eine kleine Batterie in Chucks Jackett zu verstecken, um zu beweisen, dass Chucks Hypersensibilität keine physische sondern eine psychische Erkrankung ist, die sein Urteilsvermögen direkt einschränkt und weswegen Jimmy das Geständnis auf dem Tape auch machen musste, einfach um Chuck zu beruhigen.

Erstmal betritt aber Chuck den Raum und alles wird dunkel. Natürlich aus dem Grund, weil die „New Mexico Bar Association“, in der viele Freunde von Chuck sitzen, alles tut, um es ihm möglichst leicht zu machen auszusagen. Jeder muss seine elektronischen Geräte abgeben, die Uhr wird abgenommen, Chuck und Howard dürfen sogar auf einem reservierten Parkplatz gleich vor dem Haupteingang parken. Man kann das Abdunkeln des Raumes aber natürlich auch atmosphärisch interpretieren, fast als würde jetzt der Darth Vader eintreten.

Chuck kennt natürlich alle Tricks. Sowohl die, die Richter auf seine Seite zu ziehen als auch die seines Bruders – denkt er zumindest. Nachdem sich die Anhörung nochmal das Tape zu Gemüte führt, übernimmt Jimmy die Befragung von Chuck und es ist eine Freude, diesen beiden Charakteren dabei zuzusehen, wie sie miteinander abrechnen. Chuck, der natürlich die Meinung vertritt und wahrscheinlich auch recht damit hat, dass er der weitaus bessere Anwalt ist, tut so, als sähe er alles kommen. Zu seiner Verwunderung gibt Jimmy offen zu, dass es seine Stimme ist, die auf dem Band zu hören ist, obwohl es ein leichtes gewesen wäre, diesen Beweis als solchen wertlos zu machen. Ganz im Gegenteil, Kim und Jimmy wollen sogar, dass das Tape als Beweis gespielt wird, als Beweis nämlich, dass Jimmy in Anbetracht von Chucks Gesundheit dazu gezwungen war, ein Geständnis abzulegen. Deswegen auch das „Bingo“ letzte Woche.

Aber es ist gar nicht Jimmys Ziel, diese Verhandlung auf juristische Art und Weise zu gewinnen. Das ist spätestens seit Rebeccas Anwesenheit klar, die von Chuck gebeten wird, im Gerichtssaal zu bleiben, um ihr zu beweisen, dass Jimmy eben kein Sonnenschein ist, mit dem man Witzchen reißen sollte, sondern jemand, dem man seine Anwalts-Lizenz entziehen muss. Dieser Teil des Planes geht also schonmal auf: Chuck ist mit der Situation konfrontiert, vor seiner Frau so zu wirken, dass er sich nicht blamiert, obwohl Jimmy alles dafür tut, ihn zu reizen.

Jimmy gelingt es, das Gericht davon zu überzeugen, dass Chucks Krankheit eben doch Teil der Verhandlung ist, weil man nur so verstehen kann, wieso Jimmy gehandelt hat, wie er gehandelt hat. Und so schafft er es, Chuck den letzten Anstoß zu geben, die Kontrolle über sich zu verlieren. Er tut so, als habe Chuck ihn dabei ertappt, ihn mit einem billigen Trick und einem Handy ohne Batterie in seiner Tasche zu überlisten. Chuck ist so erbost darüber, auch weil er die heilige Bühne des Gerichtssaal für einen seiner kleinen Tricks nutzt, dass er laut wird. Genau der richtige Moment für Jimmy, ihm den Todesstoß zu versetzen.

Er bittet Chuck, die von Huell dort platzierte kleine geladene Batterie aus seinem Jackett zu ziehen, womit er dem gesamten Gericht beweist, dass sein Leiden eben keine physische Allergie wie die gegen Erdnüsse ist, sondern eine psychosomatische, die sein Urteilsvermögen als Anwalt und auch als Zeuge völlig nichtig macht und ihm bis auf die Knochen blamiert. Vor den Richtern, vor seinem Partner Howard und – am schlimmsten – vor seiner Ex-Frau. Die Worte des Anwalts „Mr McGill’s mental illness is a non-issue“ sind dann zu viel für ihn. „I’M NOT CRAZY!“

Das alles gibt Chuck den Anlass, komplett die Kontenance zu verlieren und einen der wohl eindrucksvollsten Monologe der Serien-Geschichte zu halten, in dem sich sein ganzer Missmut, der sich seit seiner Kindheit aufgestaut hat, entlädt. Er erwähnt die Sabotage an den „Mesa-Verde“-Dokumenten, den Vorfall mit dem Werbeplakat aus Staffel 1. Er bereut es, Jimmy damals nach seinem „Chicago Sunroof“ („He deficated through a sunroof!“ ist eine der lustigsten Zeilen ever) verteidigt zu haben und ihm einen Job (im Mailroom) bei HHM verschafft zu haben. Er geht sogar so weit und wirft ihm vor, als 9-Jähriger Geld aus der Kasse seines Vaters genommen zu haben. Er ist komplett außer Kontrolle – und die langsam auf ihn verdichtende Kameraeinstellung verstärkt diesen Eindruck nur noch. Noch dazu leistet Michael McKean – nicht nur in dieser Woche – phänomenale Arbeit, es gibt bzgl. eines Emmys eigentlich kein Vorbeikommen an ihm. Wir hängen an seinen Lippen, jedes Wort trifft uns, wie es jeden anderen in diesem Raum trifft. Wie ich oben schon sagte: Hier stimmt alles.

Jetzt ist es also passiert, der ultimative Bruch zwischen den beiden Brüdern ist da. „Endlich“ werden viele sagen, ich finde ja, diese Folge war einfach extrem schmerzhaft. Vor allem, weil wir zu Beginn nochmal daran erinnert werden, wie aufrichtig Jimmy Chuck einst durch diese schwere Zeit geholfen hat.

Und bitte fallt nicht wie viele jetzt drauf rein und denkt, dass Chuck seine Krankheit nur gefaked hat. Nein, das wollten uns die Macher nicht damit sagen. Chuck hat eine mentale Krankheit, er braucht Hilfe. Und wenn man ganz ehrlich ist, hat Chuck mit allem, was er sagt, nicht ganz unrecht. Klar war er auch schon vor seiner Erkrankung missgünstig, was Jimmy angeht. Klar übertreibt er in einigen Punkten, als er ihm bspw. Sachen aus der Kindheit vorwirft. Aber er hat insofern recht, als dass das Recht nicht in Jimmys Hände gehört. Jimmy wird in naher Zukunft seinen inneren Saul Goodman ausleben lassen – und durch den kommen verdammt viele Menschen zu Schaden. Aber genau das ist das tolle an dieser Story: Man könnte stundenlang diskutieren, welcher der beiden Brüder eher recht hat, welcher schlimmer ist. Diese Beziehung ist so komplex und hat so viele Winkel, aus denen man sie betrachten kann, dass man das unmöglich in ein paar Worten auflösen kann. Das in jetzt 25 Folgen so zu konstruieren, ist einfach große Klasse.

Ich beende diese Review der aus meiner Sicht besten Folge Better Call Saul bis jetzt mit Chucks Worten, die den letzten Momenten der Folge, in denen Chuck hoch auf das „EXIT“-Schild schaut, sehr gerecht werden: „Let justice be done, though the heavens fall.“

Die neuen Folgen der dritten Staffel von Better Call Saul gibt es immer dienstags bei Netflix.